Wenn es frühmorgens an der Türe klopft

 

Amir, ist Teil einer dreiköpfigen Familie. Im Grunde ein ganz normales Kind. Zum Beispiel was seine Größe und sein Körpergewicht, für sein Alter entsprach, seine Leidenschaft für Fußball,... u.v.m.

 

Er hätte bestimmt wohl auch, wie viele seiner Freundinnen und Freunde, mit hoher Wahrscheinlichkeit, lieber hin und wieder einen fetten Burger mit Cola und Pommes, gegen eine gesunde Mahlzeit getauscht, so wie er es eben in der Schule gelernt hatte.

Stichwort: Ernährungspyramide.

 

Auch wie die meisten Kinder in seinem Alter – Amir besuchte die 2. Klasse der Volksschule, ging er gerne zur Schule.

 

Aber vermutlich hätte er wohl auch nichts dagegen gehabt, wenn der Unterricht etwas später begonnen wäre und die Ferien – naja, öfters stattgefunden und auch ein wenig länger andgedauert hätten.

 

Ob ihm schon bewusst war, dass er für sich und nicht für die Schule – namentlich für Frau Richter – seine Lehrerin, die er so ins Herz geschlossen hat, zu lernen hatte, sondern eben für SEINE Zukunft, kann ich nicht beurteilen.

 

Eigentlich war das Gegenteil der Fall.

Es ist auffällig oft zu vernehmen, dass Kinder, so wie Amir, der wie viele andere Menschen seine Heimat Afghanistan verlassen musste, Arzt oder eben Ärztin werden mochten.

 

PolizistInnen und RechtsanwältInnen ,stehen da bei den jungen Menschen

ganz weit oben auf der Liste, ihrer Wunschberufe.

 

Und um ihren Traum verwirklichen zu können, alles im Unterricht gebotene nur so in sich aufsaugen.

 

Was für ein Ehrgeiz, was für Anstrengungen, die sie in Kauf nehmen, um was aus sich zu machen, um letztlich – und auch das hört man oft als ihre Beweggründe, später anderen helfen zu können.

 

Am liebsten dort, von wo sie herkamen.

 

Wo es genau an solchen Ressourcen fehlt.

 

Wenn also dieser kluge Satz, sich für sich zu bemühen und nicht für irgendjemand anders, ihm so wahrscheinlich noch nicht vermittelt wurde, kann ich nur bestätigen, dass ihr Engagement - ,und da meine ich eben jene Kinder und Jugendliche, die solch eine Flucht hinter sich haben, sich sehen lassen können.

 

Im Grunde, ein ganz normaler Bub, wie ich ihn ja zu Beginn beschrieben habe, war er ja auch, und doch unterschied er sich in vielerlei Hinsicht.

 

Wenn auch nicht in seiner körperlichen Größe, dann doch zum Beispiel, in dem wenigen Raum, den er für sich beanspruchen konnte.

 

Wo andere Kinder ein geräumiges Kinderzimmer haben und das auch oft für sie allein, verfügte Amir nur über ein Bett. Der untere Bereich eines Stockbettes, den er sein eigen nennen durfte. Auch wenn der eigentliche Eigentümer das Land Tirol ist. Doch als solches wird es sowieso nicht wahrgenommen und spielt im Grunde auch keine Rolle.

 

Er hatte einen Platz zum Schlafen, vier sauber weiß verputzte Wände, für ihn, seine Mutter und seine kleine Schwester, über den ein solides Dach gebaut war.

 

Aber vor allem war es ruhig. Zumindest auf den Straßen, wo nicht ständig ohrenbetäubende Explosionen einen Alltag bestimmten, die die Familie schließlich dazu veranlasste, ihre Heimat zu verlassen.

 

In der Einrichtung selbst – im Heim für Geflüchtete, wo ca 200 Menschen leben, war Ruhe etwas seltenes.

 

Auch wenn seine Mutter sehr bemüht war, ihm in ihrem Quartier, die für ihn so wichtige Ruhe bieten zu können, so herrschte doch im ganzen Haus ein ständiges Sprachgewirr, wo jede und jeder, den anderen/die andere, versucht war, zu übertönen. Es waren allein mehr als zehn Sprachen, was erschwerend hinzu kam. Und nicht selten mündeten diese verbalen Auseinandersetzungen im Streit.

 

Ein anderer Grund, warum es phasenweise sehr lautstark zuging, lag in der Verzweiflung von Vielen, in deren Köpfen sich Kämpfe und Ängste, als Traumata festgesetzt hatten, und die nicht selten herausgeschrien werden mussten.

 

In solchen Nächten kam Amir nur zu ganz wenig Schlaf, was ihn, ohne hier das Wort „unnormal“ verwenden zu wollen, ihn dann doch in vielem von seinen Klassenkameradinnen und Kameraden unterschied.

 

Es haben doch die Sommerferien erst begonnen und nun, nun sollen sie schon wieder vorbei sein?

 

Eine Mischung aus Freude und Nervosität stieg in ihm hoch, weil er ab heute in die 3. Klasse aufsteigen würde und er viel Neues zu erwarten hatte.

 

Und dann war natürlich noch diese blöde Müdigkeit, weil er noch in seinem letzt gewohnten Schlafrhythmus steckte: dem längeren Aufbleiben, was logischerweise zur Folge hatte, erst dann aus seinem Bett zu kriechen, wenn er es wollte und nicht musste.

 

Man muss sich einmal die grundlegenden Umstände vor Augen führen:

 

16 m2 Raum für 3 Personen. Zimmer, neben Zimmer – Wohnungen kann man sie mit Sicherheit nicht nennen. Oft nur von schnell hochgezogenen Rigipswände getrennt, machen sogar den Wasserkocher von nebenan hörbar.

 

Privatsphäre, Intimitätsbereich, was eine Selbstverständlichkeit sein sollte.

 

 

 

Im Wohnheim, wo Amir mit seiner Mutter und seiner Schwester lebte, Fehlanzeige!

 

Die, mit den für die Schule notwendigen Utensilien gefüllte Schultasche, hatte beinahe kein Gewicht. Lag natürlich daran, dass die Kinder erst im Laufe der ersten Woche ihre Bücher und Hefte bekommen werden, aber auch daran, dass jeder Buntstift und jeder Bleistift, genauest kalkuliert eingekauft werden musste und deswegen, für Extras, wie Freundschaftsbuch und anderen „Luxus“ ,ihr kein zusätzliches Gewicht verleihen konnte.

 

Die Jausenbox musste noch mit in seine Schultasche, die seine Mutter Fatima, mit gesunden und nahrhaften Mahlzeiten gefüllt hatte.

 

Die Eltern aller Kinder wurden diesbezüglich auch extra gebrieft, dass sie darauf Wert legen sollten, grundsätzlich nur gesundes und nahrhaftes reinzupacken.

 

Aber natürlich war auch hin und wieder ein Stück Schokolade erlaubt.

 

Obwohl Fatima beim Erlernen der Sprache schon sehr große Fortschritte gemacht hatte, stellte ihr die Schulleitung ganz selbstverständlich eine Dolmetscherin zu Verfügung.

 

In Fatimas Fall, wie auch für die drei weiteren AfghanInnen, deren Kinder dieselbe Schule besuchten, übernahm diese so wichtige Aufgabe die farsisprechende Maryam, die auch als beeidigte Dolmetscherin für das BFA im Einsatz ist, um dort, bei den sogenannten „Interviews“, welche über den Verbleib hier in Österreich – also einem positiven Asylbescheid, oder im schlimmsten Fall, über eine Abschiebung, zu entscheiden hat, stand ihr zur Seite.

 

Natürlich galt dieses so wichtige Angebot auch für Eltern, die eine andere Herkunftssprache sprachen.

 

Es ist nicht immer ganz so einfach, dies alles zu organisieren, so dass niemand uninformiert zurückbleiben muss, ganz gleich welche Sprache es zu übersetzen galt.

 

Amirs Mutter hatte die Uhrzeit fest im Auge. Ihr Sohn soll ja nicht zu spät kommen. Es verblieben nur mehr wenige Minuten. In solchen Momenten reichte ein Blick aus.

 

Amir kennt die Mimik seiner Mutter genau. Noch einen letzten Schluck Tee und dabei versucht zu sein, seine Müdigkeit, mit einem Lächeln zu kaschieren. Im Grunde ein zweckloses Bemühen. So wie Amir es verstand, im Gesicht seiner Mutter zu lesen, so verstand es natürlich auch Fatima, zu spüren, wie es ihrem Sohn geht.

 

Noch einen letzten Schluck Tee, um den letzten Bissen Brot leichter runterschlucken zu können, schlüpfte er lässig in seine Flip-Flops, schnappte sich seine Schultasche…

 

„Halt junger Mann! Hast du nicht etwas vergessen?“

 

Umgehend ließ Amir die Türschnalle los, umarmte schnell seine Mutter, und dann nur schnell raus.

 

Die Türschnalle bereits in seinen kleinen Händen, passierte dann ganz plötzlich, das völlig Unerwartete.

 

Nicht ganz so unvorhersehbar, kam es wohl für Fatima. Es kam immer wieder vor, dass sie in der Stille der Nacht, ihr Kissen voll weinte, sich in dem von Tränen feuchten Stoff verbiss, um ihre Panik, ihr Schreien, das ihr auf den Lippen lag, zu unterdrücken.

 

Lautstark pochte es an der Türe. Der ganze Türrahmen schien unter dem heftigen Klopfen zu vibrieren, gefolgt, von der unmissverständlichen Aufforderung, die Tür unverzüglich zu öffnen…

 

…Ängste, Tränen, Verzweiflung, Wut,… Eine Mischung furchtbarer Emotionen, füllten unmittelbar den kleinen Wohnraum.

 

Was passierte hier…?

 

Die vierjährige Aysha, die um diese Zeit meist noch tief und fest schlief, während Fatima, wie alle anderen Mütter, schulpflichtiger Kinder, frühmorgens, liebevoll ihren Sohn mit allem versorgte und alle Vorbereitungen traf, war längst durch den hämmernden Krach aufgewacht. Eilig kam Fatima ihrer schlaftrunken und verstörten Tochter entgegen, um sie fest in ihre Arme zu schließen. Verzweifelt versuchte sie sich, ihrer Tochter zuliebe, ein Lächeln abzuringen. Längst war auch Amir mit seiner Mutter eins geworden. Stoff an Stoff, eng aneinander geschmiegt, darunter - zitternde Haut.

 

Beinahe ein wenig surreal, wirkte Ayshas rosa Hello-Kitty-Pyjama, in dieser von Verzweiflung vergifteten Atmosphäre. Dieses fröhliche Motiv, in Pastellfarben, hatte längst seine bunte Strahlkraft verloren.

 

Verloren schien auch ihre neue Heimat. ...

 

Es war zwecklos, unbemerkt zu bleiben. Fatimas zitternde Hände gaben dem Klopfen nach und öffnete den Beamten die Türe.

 

Fremdenpolizeinsatz, Festnahme, Verwahrung,…. Letztlich die Abschiebung.

 

Die Mutter und ihre Kinder haben früher schon von Kind an gelernt, in ihrem Herkunftsland Afghanistan, als Angehörige der Hazara, mit der latenten Gefahr zu leben, Schikanen und auch Gewalt erfahren zu müssen.

 

Was sollten sie nun in Afghanistan?

 

Wem können sie dort vertrauen? Wo sich in Sicherheit bringen, wenn der Terror der Taliban um sich greift.

 

Wie dort überleben, wo man neben der sowieso schon ungewünschten ethnischen Zugehörigkeit, nun als Geflüchtete, mit Sicherheit, zusätzlich Stigmatisiert werden wird.

 

©hristof